Briefe aus Jerusalem

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    • 01.10.2006
    • 1837

    Briefe aus Jerusalem

    Den meisten von uns wird der folgende Brief vom Stil her bekannt vorkommen, auch wenn er schon vor 200 Jahren geschrieben wurde und der Absender nicht in Nigeria wohnt, sondern im Pariser Gefängnis von Bicêtre:

    Mein Herr!

    Sie werden ohne Zweifel erstaunt seyn; diesen Brief von einem Unbekannten zu erhalten, welcher sie um einen Dienst bitten will: aber in der traurigen Lage, in der ich mich befinde, bin ich verloren, wenn nicht edle Menschen sich meiner annehmen; deßhalb nun wende ich mich an Sie, von dem man mir so viel Gutes gesagt hat, daß ich nicht einen Augenblick zögere, Ihnen die ganze Lage meiner Umstände anzuvertrauen.

    Ich war Kammerdiener bei dem Marquis von .... und wanderte mit ihm aus. Um keinen, Verdacht zu erregen, gingen wir zu Fuße und ich trug das Gepäck, worunter eine Kasse mit sechzehntausend Franken und die Diamanten der seligen Frau Marquise waren. Wir waren auf dem Punkt, bei der Armee von .... einzutreten, als Steckbriefe gegen uns ausgeschrieben und wir durch eine Abtheilung Freiwilliger verfolgt wurden. Als der Herr Marquis sah, daß man uns nahe zusetzte, hieß er mich die Casse in eine ziemlich tiefe Pfütze werfen, damit ihre Gegenwart uns nicht verriethe, wenn wir eingeholt werden sollten. Ich zählte darauf, in der nächsten Nacht zurückzukehren, um sie wieder aufsuchen zu können, aber die Bauern, welche sich auf die Sturmglocke, die der Commandant der Abtheilung gegen uns läuten ließ, zusammenrotteten, fielen das Gehölz, in dem wir uns verborgen hielten, mit solcher Heftigkeit an, daß wir nur auf Flucht denken konnten.

    In dem Auslande angekommen, erhielt der Hr. Marquis einige Zuschüsse von dem Prinzen von ...., aber diese Quellen erschöpften sich bald, und er dachte darauf, mich nach der Kasse zu schicken, welche in der Pfütze geblieben war. Ich war um so sicherer, sie wieder zu finden, als am andern Tage, nachdem ich sie weggeworfen hatte, wir aus dem Gedächtnisse einen Plan aller Localitäten verfertigten, im Fall wir längere Zeit verbleiben sollten, ohne zurückkehren zu können.

    Ich machte mich auf den Weg, betrat Frankreich und gelangte ohne Unfall bis zu dem Dorf von ...., nahe an dem Gehölz, wo man uns verfolgt hatte. Sie werden dieß Dorf recht wohl kennen, da es nur drei Viertel Meilen von Ihrem Wohnort liegt. Ich rüstete mich, meinen Auftrag zu vollziehen, als der Wirth, bei dem ich wohnte, ein wüthender Jacobiner und em Käufer des Nationalguts, indem er meine Verlegenheit bemerkte, als er mir vorgeschlagen hatte die Gesundheit der Republik zu trinken, mich als verdächtig verhaften ließ. Da ich keine Papiere hatte, und unglücklicherweise mit einem Individuum, das wegen Anhaltung der Posten verfolgt war, Aehnlichkeit haben sollte, schleppte man mich von Gefängniß zu Gefängniß, um mich mit meinen vergeblichen Genossen zu confrontiren. Ich gelangte so im Bicêtre an, wo ich seit zwei Monaten in Verwahrung bin.

    In dieser grausamen Lage erinnerte ich mich, von Ihnen, als von einem Verwandten meines Herrn, welcher Güter in Ihrem Bezirk hatte, sprechen gehört zu haben, und bitte Sie nun, ob Sie mir nicht den Dienst erzeigen möchten, die Kasse aufzusuchen, und mir einen Theil des Geldes, welches sie enthalt zu überschicken. Ich könnte so meinen dringendsten Bedürfnissen abhelfen, und meinen Defensor bezahlen, welcher mir diesen Brief dictirt hat, und mir versicherte, daß ich mit einigen Geschenken mich aus der Sache ziehen könne.

    Mich damit &c.
    Unterzeichnet: ........
    Eugène François Vidocq, der Berichterstatter, erläutert dazu:

    [...] verschafften sich die Addresse von den reichen Bewohnern der Provinz, was leicht war, vermittelst der jeden Augen blick ankommenden Verurtheilten; man schrieb ihnen Briefe, die man im Rothwälsch Briefe von Jerusalem nannte, und welche so beschaffen waren, wie der vorstehende. Es ist unnöthig zu bemerken, daß die Namen der Orte und Personen nach den Umständen wechselten.

    Unter hundert Briefen dieser Art wurden immer zwanzig beantwortet. Man wird sich hierüber nicht mehr wundern, wenn man bedenkt, daß sie sich an Männer wendeten, welche durch ihre Anhänglichkeit an die alte Ordnung der Dinge bekannt waren, und daß es nichts Unbedachtsameres gibt, als Partheigeist. Man bezeugte dem Angegangenen Jenes unbegrenzte Zutrauen, welches niemals bei der Eigenliebe oder beim Interessirten seine Wirkung verfehlt; der Provinciale schrieb nun, daß er sich damit befassen wolle, den Schatz zu heben.

    Nun folgte ein neues Schreiben des vorgeblichen Kammerdieners, enthaltend, daß er von allem entblöst bei dem Gefängnißwärter die Kiste, in deren doppeltem Boden der schon erwähnte Plan sich befinde, gegen eine mäßige Summe versetzt habe. Das Geld kam dann an, und man empfing Summen von zwölf- bis fünfzehnhundert Francen. Einige Individuen, welche eine Probe von ausserordenllicher Scharfsicht geben wollten, kamen selbst aus dem Schooße ihrer Provinz nach Bicêtre, wo man ihnen den Plan gab, der bestimmt war, sie in jenes geheimnißvolle Gehölz zu führen, welches wie die fantastischen Wälder in den Ritterromanen ewig vor ihnen fliehen sollte. Die Pariser selbst gingen in die Schlinge, und man wird sich noch der Gegebenheit mit dem Tuchhändler aus der Straße des Prouvaires erinnern, welcher ertappt wurde, indem er einen Schwibbogen der Pontneuf-Brücke untergrub, unter dem er die Diamanten der Herzogin von Bouillon zu finden glaubte.
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