Deutsche Militärdoktrin: Offensivgeist, Auftragstaktik und Führen von vorne

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  • Aide de Camp
    Erfahrener Benutzer
    Sergent
    • 14.12.2020
    • 167

    #16
    Ich denke, dass es sich bei den beiden Sytemen Auftags- und Befehlstaktik keinesfalls nur um ein Problem der Theorie handelt. Das sogenannte "Frontschwein" hat in dieser Thematik überhaupt keine Relevanz, weil es am Ende der Befehlskette steht und es in den Führungsvorgang überhaupt nicht in dem Maße eingebunden ist, wie die Offiziere. Auch ein Einheitsführer wird mit dieser Thematik relativ wenig zu tun haben, ein Zugführer noch weniger. Von einem Bataillonskommandeur wird allerdings schon erwartet, dass er den entscheidenden Unterschied zwischen Befehls- und Auftragstaktik verstanden hat. Für die höheren Kommandostäbe ist das Verständnis dieses Unterschieds unverzichtbar. Heutzutage wird jeder angehende Leutnant, der in naher Zukunft als Teileinheitsführer eingesetzt wird, auf den entsprechendenTaktiklehrgängen an der Offiziersschule nicht auf der Kompanieebene ausgebildet, sondern in die Lage des Bataillonskommandeurs versetzt, damit von Anfang an bei den jungen Offiziersanwärtern die Umsetzung der Absicht der übergeordneten Führung eingeübt werden kann. In diesem Punkt unterscheiden sich Befehls- und Auftragstaktik diametral voneinander. Die zweite erfordert von der höheren Ebene ein sehr gesundes Vertrauen in den richtigen lageorientierten Entschluss der Unterführer. Auf die eigenständige Lagebeurteilung wird deshalb in der heutigen Offiziersausbildung als ein verständlicher Schwerpunkt gesetzt. Diese eigenständige Lagebeurteilung hat in der Schule der Auftragstaktik deshalb auch einen ganz anderen Stellenwert als in der Offiziersausbildung von Armeen, die überwiegend befehlstaktisch ausgerichtet sind. Dort wird auf den eigenständigen Entschluss weniger Wert gelegt und das Verantwortungsgefälle ist dort eben auch sehr unterschiedlich angelegt.

    Dies führte unter anderem auch zu der äußerst schwierigen Situation 1990, als entschieden werden musste, wie mit einem Großteil der NVA-Offiziere verfahren werden sollte, als es um eine weitere Verwendung in der Bundeswehr ging. Wie sollte es realisiert werden können, befehlstaktisch ausgebildete NVA-Offiziere in ein System zu übernehmen, das auftragstaktisch organisiert ist. Das lässt sich ohne langfristige "Umschulung" kaum bewerkstelligen.

    Vor diesem Hintergrund ist die Ausrichtung auf Befehls- oder Auftragstaktik alles andere als ein theoretisches Problem, weil es grundlegend in die Offiziersausbildung und weite Teile der grundsätzlichen Menschenführung eingreift. Daraus resultiert auch, wie ein Generalstab die operative Planung seiner Truppe organisiert und das eigene Offizierskorps zu selbstständigem Denken und Handeln erzieht

    Ich persönlich sehe, bezogen auf die napoleonischen Kriege, die Generalstabsarbeit unter Blücher/Scharnhorst/Gneisenau viel mehr in Richtung Auftragstaktik gehen als bspw. die Ausrichtung Napoleons, bei dem der Schwerpunkt der operativen Führung typische Zeichen von Befehlstaktik offenbart. Selbstverständlich sagt die Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Führungs- oder Befehlssystem nichts über die Güte der operativen Planung aus.

    Aber ein typisches Beispiel für die Widrigkeiten napoleonischer Befehlstaktik bietet der Feldzug von 1815. Mal abgesehen davon, dass die Stabsarbeit in der improvisierten Armee du Nord eher suboptimal organisiert war, hätte eine genaue Darlegung der operativen Absicht durch Napoleon und ein besser ausgebildetes, sich an den Maßstäben eigener Lageeinschätzung und Entschlsussfindung orientiertes Handeln der Unterführer wohl nicht zu solchen operativen Fehlleistungen ausgeweitet. Ein in Auftragstaktik geschultes Armeeoberkommando und Generäle, die lange Jahre in eigener Lagefeststellung und Entschlussfassung geübt gewesen wären, hätte vermutlich die operative Lage Quatre-Bras - Ligny anders eingeschätzt und das sinnlose Hin- und Hermarschieren des I. Korps unter Drouet d'Erlon wäre vermutlich unterblieben.

    Ein weiteres gutes Beispiel ist die operative Planung Napoleons hinsichtlich der Schlacht von Bautzen, die in ihrer Anlage alle Möglichkeiten eines entscheidenden Umfassungmanövers bot, das aber augenscheinlich scheitern musste, weil die Generalität zum einen über die Absicht des Oberkommandierenden nicht restlos aufgeklärt war, sie aber des Weiteren auch gar nicht in der Lage war, die für die Umsetzung einer solchen Planung erforderliche eigene Handlungs-, Beurteilung- und Entschlusskraft an den Tag zu legen. Die französische Generalität war dazu einfach nicht ausgebildet. Ein Offizierskorps, das nach den heutigen Grundsätzen des Führens nach Auftrag ausgebildet worden ist, hätte diese operative Planung möglicherweise zum Erfolg führen können.
    Zuletzt geändert von Aide de Camp; 15.02.2021, 10:56.

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    • IR 134
      Neuer Benutzer
      Cantinière
      • 11.02.2021
      • 6

      #17
      Wie gesagt, der Begriff "Auftragstaktik läßt sich laut Leistenschneider zum ersten mal zu Beginn der 90er Jahre des 19. Jhd nachweisen, als dieser zu ersten mal im Rahmen der Auseinandersetzung um die Infanterietaktik in der zeitgenössischen Literatur auftauchte. Er stand allerdings nicht sofort als allgemein verbindlicher Begriff fest, sondern wurde in verschiedensten Varianten benutzt, die aber im Grunde dassselbe meinten, z.B. Auftragskampf, Befehl in Auftragsform, Auftragsverfahren, Initiativverfahren, Freies Verfahren (Freie Taktik), Individualverfahren.
      Die Auftragstaktik ist allerdings der heute gebräuchlichste Begriff.


      Im Prinzip ist es vereinfacht ausgedrückt so, wie es der - nach mM.- recht verständlich geschriebene Wiki-Artikel über das Führen mit Auftrag benennt:

      Der Auftrag benennt das Ziel und läßt dem Ausführenden die freie Wahl der Mittel, wie er dahin gelangt.
      Der Befehl benennt explizit, den Weg zum Ziel Von-Über-Nach.
      Es gibt zwischen der "A" und der "B" natürlich Schnittstellen, wo eine klare Abgrenzung aber nicht so einfach möglich ist.


      Zitat von Aide de Camp Beitrag anzeigen
      Ich denke, dass es sich bei den beiden Sytemen Auftags- und Befehlstaktik keinesfalls nur um ein Problem der Theorie handelt. Das sogenannte "Frontschwein" hat in dieser Thematik überhaupt keine Relevanz, weil es am Ende der Befehlskette steht und es in den Führungsvorgang überhaupt nicht in dem Maße eingebunden ist, wie die Offiziere.
      Für ein Musketier-"Frontschwein" des 19. Jahrhunderts stimme ich Dir voll zu. Für die heutige Zeit würde ich das so nicht unterschreiben. Jeder (Mannschafts-)Soldat sollte nach Möglichkeit vor Beginn eines Einsatzes/Auftrages von seinem Vorgesetzten (i.d.R. Gruppen- oder Zugführer) über die Absichten der höheren Führung - wenigstens bis zur Kompanie-Ebene - informiert sein um im Falle des Ausfalls seiner unmittelbaren Führer den Auftrag im Rahmen seiner Möglichkeiten weiter durchzuführen.Als Beispiel nenne ich dazu das Ablösegespräch im Alarmposten
      Zuletzt geändert von IR 134; 15.02.2021, 14:10.

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      • Da Capo
        Erfahrener Benutzer
        Adjudant
        • 23.10.2006
        • 829

        #18
        Wir sind wieder bei der Definition von Begriffen. Unser Frontschwein subsummiere ich diejenigen, die an der Front das ausführen müssen, was sich die Feldherren ausgedacht haben.

        Dazu gehört für mich auch ein General Reynier, der mit dem 7ten Korps, dem Korps Dobrowsky und dem Kavallerie-Korps Sebastiani zwischen dem 09. und 15.10.1813 einen Scheinangriff auf Berlin auszuführen hatte. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Herr Graf sich dabei Gedanken über Auftrags- oder Befehlstaktik gemacht hat. Er hatte einen grob umrissenen Auftrag mit mehr oder weniger klar definierten Zielen auszuführen und das hat er, so die Meinung der Zeitgenossen, bravurös gelöst.

        In der theoretischen Ausbildung an Offiziersschulen und Akademien mag der Unterschied eine gravierende Rolle spielen und für die Wissensvermittlung wichtig sein.

        An der Front hängt es immer von den Umständen ab. Ich kann noch so Auftragstaktiker sein, wenn ein Ort um jeden Preis zu halten ist, dann ist der Ort um jeden Preis zu halten. "Herr General Klengel, Sie halten Kobryn auf alle Fälle bis zum 27.07." Da ist der Drops gelutscht. Und selbst wenn er dann bei der Organisation der Verteidigung wieder in die Auftragstaktik wechseln konnte, war es ihm mit Sicherheit wieder völlig egal.

        Die Form der Taktik ist einerseits bestimmt von dem Vertrauen, dass die Führenden in die Ausführenden setzen und verlangen können bzw. zu setzen und zu verlangen bereit sind und andererseits von der zu lösenden Aufgabe.
        Um beim Drops zu bleiben - ob das nun Fruchtlutsch- oder Lutschfrucht-Bonbon heißt, ist am Ausführungspunkt herzlich egal.
        Wenn der Feind in Schußweite ist, bist Du es auch. Vergiss dabei nie, dass Deine Waffe vom billigsten Anbieter stammt.

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        • Tom
          Erfahrener Benutzer
          Chef de Bataillon
          • 03.10.2006
          • 1072

          #19
          Vielleicht wieder zum Ausgangspunkt zurück: Begriffe wie Auftragstaktik u.ä. sind natürlich für die napoleonischen Kriege anachronistisch. Aber: Die Generation Moltke wurde von Militärschriftstellern wie Clausewitz und Jomini geprägt, die wiederum in den napoleonischen Kriegen als höhere Offiziere gefochten und praktische Erfahrungen gesammelt haben. Wenn ich richtig informiert bin, ist in Preußen mehr Wert auf Clausewitz - der ja durchaus die Vorteile der napoleonischen Strategie erkannte - gelegt worden, weshalb die Generation Moltke (ich weiß, Moltke wurde als Offizier in Dänemark ausgebildet) in Richtung der napoleonischen Kriegsgrundsätze "getrimmt" wurde: Zusammenhalten der Kräfte, strategisches Ziel ist die Vernichtung des gegnerischen Heeres in einer Serie von Hauptkämpfen, Marschieren auf die Verbindungen des Gegners, flexible Schlachtanlage (Umfassung oder Zentrumsstoß oder schräge Schlachtlinie oder...), Abwägen der Offensive gegen die Defensive mit ihren jeweils spezifischen Vorteilen / Nachteilen usw. usf. Diese strategische "Doktrin" hat zum Sieg in Frankreich 1870/71 geführt (trotz taktischer Nachteile, z.B. bei der preußischen Gewehrbewaffnung).
          Daraufhin setzte in Frankreich ein Umdenken ein - weg von Jomini, hin zu Napoleon / Clausewitz. Am besten beschrieben in dem Schlagwort "offensive à outrance", das das französische strategische Denken bis 1914 bestimmte. Hervorragender Vertreter war Marschall Foch, der übrigens auch ein Bändchen über die Schlacht von Laon 1814 verfasst hat. (Nebenbei hat diese Fokussierung der Section historique des franz. Generalstabs auf Napoleon uns einige hervorragende Geschichtswerke zu 1792-1815 eingebracht.)
          Gruß, Tom
          Zuletzt geändert von Tom; 16.02.2021, 07:44.

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          • Suworow
            Erfahrener Benutzer
            Sergent
            • 24.11.2013
            • 112

            #20
            Moltke, der sich weitestgehends an Clausewitz orientierte, formulierte in der " Verordnung für die höheren Truppenführer" von (1869) im Kaptel VI der Verordnung, zwei wesentliche Grundsätze die militärische Führung betreffend. In denen er , so wie Clausewitz, jeglichen Schematismus in der Kriegsführung ablehnte.
            So sollte der Befehl nicht über diejenigen Verhältnisse hinaus disponieren, die man sehen kann.
            Und er sieht hier auch eine moralische Frage!
            Moltke meint, es würde das Vertrauen der Unterführer erschüttern und der Truppe ein Gefühl der Unsicherheit erzeugen, wenn die Dinge anders kommen, wie der Befehl das voraussetzte.
            Dem eingedenk, ließ er seinen höheren Truppenführern bereits in der Kampagne 1866 ziemlich viel Freiheiten. Nicht alle konnten damit umgehen, wie die Praxis bewies.

            In diesem Zusammenhang ein Wort noch zur untergegangenen NVA:
            Nicht in allen Fällen wurde in der Taktik und operativen Handlung stur nach Befehl gedacht und gehandelt.
            Besonders in Begegnungsgefechten war vorgesehen den Truppenführern aller Ebenen, in unklaren Lagen, freie Hand zu lassen.
            Das äußerte sich schon in der Formulierung der Gefechtsaufgabe, in der zwar eine Nächste Aufgabe formuliert wurde, dann jedoch nur noch eine weitere Angriffsrichtung vorgegeben wurde. Ab dann war der Kommandeur aufgefordert selbstständig zu handeln und zu operieren.
            Im Gegensatz zur Verteidigung.
            Hier wurde keien Eigenständigkeit außerhalb eines befohlenen Raumes oder Abschnitt zugelassen.
            So war in der NVA der "hinhaltetende Kampf" z.B. unbekannt.
            Zuletzt geändert von Suworow; 16.02.2021, 08:08.
            Tu´ im Kriege das, was der Gegner für unmöglich hält.

            Alexander W. Suworow

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            • IR 134
              Neuer Benutzer
              Cantinière
              • 11.02.2021
              • 6

              #21
              Wenn ich noch ein kriegsgeschichtliches Beispiel zum Punkt "Führen von vorne" zum Besten geben darf, dann würde ich gern den bereits erwähnten August von Preußen nochmal in´s Spiel bringen und zwar anhand seines Gefechtsberichtes über den Einsatz seiner Brigade bei Kulm: als er in einer kritischen Phase (die Röchling später in Szene setzte), in der eine hohe Anzahl an Führungspersonal ausgefallen war, Männer zusammenkratzte, sich deren Fahne schnappte und einen Gegenangriff einleitete, der die Situation bereinigte.
              Für mich auch heute noch ein bemerkenswertes Beispiel von Führungsverantwortung.

              https://archive.org/stream/kriegsges.../n213/mode/2up

              Meiner Ansicht nach war aber dieses "Führen von vorne" höherer Truppenbefehlshaber im 19. Jahrhundert eher die Regel als die Ausnahme aufgrund der spezischen Verhältnisse eines Gefechtsfeldes dieser Zeit, v.a. was die Kommunikation betraf, die die Anwesenheit und ggfs. Eingreifen des Kommandeurs weitaus nötiger machten als die technikunterstütze Führung im 20. Jhrdt.


              Und ganz grundsätzlich habe ich zum Punkt "Führungsverantwortung" bzw. "Gewähren selbstständiger Entschlüsse durch Untergebene", den Eindruck, dass die Militär-Reformer der Jahre 1808-1815, die Willens waren, in einer streng hierarchisch geprägten Zeit solch eine Art, ich nenne es mal "demokratisches Element", in die Armee einzuführen, einer Bundeswehr des 21. Jahrhunderts um viele Längen voraus waren. Das ausgerechnet diese fortschrittlichen Ansichten in unserer heutigen Gesellschaft - und unter Berücksichtigung, dass Entschlussfreude explizit als traditionswürdig erachtet wird,genau ins Gegenteil verkehrt werden, wir uns, übertrieben gesagt, Verhältnissen des Jahres 1806 oder früher nähern, ist wirklich ein Treppenwitz der Geschichte. Es stellt sich erneut die Frage "Jena oder Sedan"?
              Zuletzt geändert von IR 134; 17.02.2021, 17:39.

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              • HKDW
                Erfahrener Benutzer
                Colonel
                • 02.10.2006
                • 2969

                #22
                Über die Bundeswehr des 21 Jahrhunderts kann ich nicht sagen, ich war Wehrpflichtiger in den Siebziger Jahren, auch hier situationsbezogen nur ein kleines Schräubchen, trotzdem hatte ich eines sehr hochgeschätzt an dieser Armee, den Staatsbürger in Uniform.

                Ich weiß auch nicht wo die Militär - Reformer der Jahr 1808 - 1815 ein "demokratisches" Element einführten, außer eventuell den Freiwilligen Jägern, mit denen sich die reguläre Armee, man lese bitte Alexis, sehr schwer tat.

                Ich kann auch 1806 nirgendwo entdecken, dass einem Grawert oder Rüchel - explizit befohlen wurde mit welchen taktischen Mitteln ihr Gefecht zu führen war, eher war ihr Auftrag nicht formuliert.

                Auftragstaktik hängt von der Gefechtstaktik ab - in einer Infanterielinie von 10 Bataillonen in Linie deploiert - da brauch ich keine Brigade Kommandeure, oder Obristen, sondern Bataillonskomandeure die die Linie halten können ohne dass sie auseinander reißt.




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